Mai 2016: kuli-UG und GPV Exkursion nach Berlin

Zu Besuch in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum.

Ein Bericht von Renate und Timo Brunnbauer

 

Großartig, wie selbstbewusst und freundlich die SchülerInnen und LehrerInnen einander und uns als BesucherInnen begegnen!

 

Eine Beobachtung, die wir, 12 LehrerInnen aus Oberösterreich, unabhängig voneinander während der Hospitationstage in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) immer wieder gemacht haben. Wie geht das? Was führt dazu, dass Jugendliche ohne Begleitung ihrer LehrerInnen fast spontan eine seminarartige Diskussionsrunde für uns gestalten können? Ehrlich, ohne jegliche Übertreibung beantworteten sie unsere Fragen, traten natürlich auf und hatten auch keine Ängste vor Scherzen und selbstironischen Bemerkungen.

 

Unsere angeregten Diskussionen schlossen nahtlos an jene an, die wir nach dem Vortrag der SchulleiterIn Margret Rasfeld bei unserer Generalversammlung 2014 geführt haben. Wir haben uns daraufhin bemüht, einen Hospitationstermin zu bekommen – im Mai 2016 war es dann soweit, nach Berlin aufzubrechen.

 

Es wurde keinerlei Show für uns veranstaltet –

wir haben den echten Schulalltag erlebt.

 

Die schulfreien Tage rund um den katholischen Feiertag haben es möglich gemacht. Wir konnten nach Berlin reisen und zwei Tage in der ESBZ hospitieren, denn die protestantisch orientierten Berliner Schulen hatten Unterricht.

 

Es wurde keine Show für uns veranstaltet – alle Lernbüros waren uns zugänglich. Wir wurden lediglich ersucht, nicht in großer Anzahl in den einzelnen Klassenräumen aufzutauchen, damit die Arbeit nicht über Gebühr gestört werde. Anders wäre es wohl auch nicht zu organisieren, wenn man die große Anzahl der interessierten LehrerInnengruppen bedenkt. Besuche von PädagogInnengruppen sind für die SchülerInnen und LehrerInnen der ESBZ mittlerweile normal.

 

Das heißt, wir haben keine speziell dekorierten Klassenräume, keine „zufällig“ an diesem Tag präsentierten Projektberichte erlebt, niemand hat die gelungensten Lernmaterialien für uns herausgelegt oder darauf geachtet, dass irgendwelche Produkte von Kunstprojekten noch vor unserer Ankunft aufgehängt wurden. Vom Eingangsbereich bis zu den Unterrichtsräumen und Materialien haben wir den echten Schulalltag erlebt – wir waren zunächst verblüfft.

 

Die Schule steht allen offen.

 

Die Evangelische Schule Berlin Mitte ist eine Privatschule. Das Schulgeld ist dem Einkommen der Eltern angepasst. Die ca. 600 SchülerInnen kommen aus ganz Berlin und dem näheren Umfeld. Eltern, die ihre Kinder in diese Schule schicken, sind aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Was sie gemeinsam haben, ist das Interesse an Bildung. Die Sozialstruktur (Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, aus prekärem sozialen Umfeld) entspricht allerdings nicht dem üblichen Durchschnitt Berlins. Natürlich besuchen nicht nur lernstarke SchülerInnen das Zentrum, es gibt auch einige Kinder mit Beeinträchtigungen oder Lernschwächen. Die Integration dieser SchülerInnen entspricht nicht unseren Vorstellungen von Inklusion: so gibt es zum Beispiel für diese Kinder eigene Lernbüros. Diese stehen zwar auch anderen offen, die kurzfristig mehr Förderung brauchen, Kinder mit Beeinträchtigungen gehen aber von vorneherein in das Lernbüro Plus.

 

 

Religion spielt im Alltagsleben der Schule eine untergeordnete, aber doch bemerkbare Rolle. Nicht alle Kinder gehören der evangelischen Konfession an.

 

Dass der Träger der ESBZ aber sehr wohl eine Glaubensgemeinschaft ist, wird bei der Anstellungspraxis sichtbar: PädagogInnen müssen nach zwei Jahren an der Schule die Entscheidung treffen, ob sie wieder abgehen oder sich taufen lassen um bleiben zu können.

 

SchülerInnen legen ihren Stundenplan relativ spontan selbst fest.

 

Jeder Schultag beginnt mit dem Lernbüro. Hier geht es im Wesentlichen um die sogenannten Hauptgegenstände. SchülerInnen entscheiden eigenständig, mit welchem Gegenstand sie sich an diesem Morgen beschäftigen wollen. Es gibt also Lernbüros für Englisch, Mathematik und Deutsch, die von FachlehrerInnen betreut werden und schulstufenübergreifend organisiert sind. In den Lernbüros wird mit „Bausteinen“ gearbeitet, Anleitungen wie wir sie von Planarbeiten kennen - nur um Einiges umfangreicher.

 

Es gibt nur wenige Vorgaben darüber, welches Lernbüro wie oft pro Woche aufgesucht werden muss. Die LehrerInnen führen allerdings Anwesenheitslisten und die erledigten und noch zu erledigenden Arbeiten werden im persönlichen Logbuch der Lernenden dokumentiert. Im wöchentlichen Gespräch mit dem zuständigen Tutor/der Tutorin wird die individuelle Arbeitsweise betrachtet und gegebenenfalls Schwerpunktsetzungen vereinbart.

 

Keine Schularbeitentermine.

 

Die SchülerInnen legen eigenständig fest, wann sie diese Arbeiten schreiben wollen. „Wenn ich den Stoff verstanden habe, wenn ich das durchgearbeitet habe, dann schreibe ich die Arbeit“, hat uns eine Schülerin erklärt. Dadurch wird eine ganze Menge Druck herausgenommen. Ziffernnoten gibt es zudem erst ab dem 9. Schuljahr.

 

Ergebnisoffene Projektarbeit

 

Die Realienfächer werden hauptsächlich im Rahmen von Projekten durchgenommen. Auch hier liegt die Verantwortung bei den Lernenden. Es sind ergebnisoffene Prozesse, auch Scheitern ist möglich – die LehrerInnen versuchen nicht, schwache Projektarbeiten irgendwie zu beschönigen. Mindestens fünf Stunden pro Woche sind dafür vorgesehen. Ein Projekt zieht sich im Schnitt über ungefähr acht Wochen.

 

Verantwortung übernehmen

 

Schon ab der siebten Schulstufe (dem ersten Jahr an der Schule) suchen sich die Kinder individuell eine Aufgabe, der sie dann während des Schuljahres nachgehen. Die SchülerInnen geben Lernhilfe an den Grundschulen, betreuen Flüchtlingskinder oder organisieren selbständig Kurse für Senioren. Beispielsweise wurde von den Achtklässlern ein Computerkurssystem entwickelt, das zu einem großen Erfolg wurde: Kinder, die in dieses Projekt einsteigen wollen, müssen sich dafür erst einmal bei ihren MitschülerInnen bewerben.

 

Herausforderung – mit Komplikationen fertig werden

 

„Unser Begleiter sagte am Ende, dass er von diesen drei Wochen einen Knacks davongetragen hat.“ Karim, 16 Jahre und sein Klassenkollege erzählten uns vom Projekt Herausforderung. Das Projekt Herausforderung wird zweimal durchgeführt, und zwar in der 8. und 9. Schulstufe. Die SchülerInnen (Gruppengröße bis sieben TeilnehmerInnen) entscheiden sich für eine dreiwöchige Aufgabe, die mit äußerst geringem Budget im September jedes Jahres durchzuführen ist. Meist entscheiden sich die Jugendlichen für eine ausgedehnte Wanderung (wie Karims Gruppe), eine Radtour („die Holländer sind viel netter als die Deutschen!“) oder ein Sozialprojekt (Arbeit auf dem Bauernhof, Mitarbeit im Flüchtlingsheim).

 

 

Die Planung dafür erfolgt in enger Absprache mit den KlassenlehrerInnen, älteren SchülerInnen, die die Herausforderung schon gemacht haben, und der erwachsenen Betreuungsperson, die jeweils eine kleine Gruppe begleitet. Mehr als 150 Euro pro Nase dürfen nicht mitreisen – kein allzu großes Budget für 20 Tage.

 

 

Das Projekt Herausforderung stärkt den Teamgeist, die eigenen Stärken, das Selbstvertrauen. Und es hat auch mit Überwindung zu tun: Oft wissen die Kinder nicht, wo sie übernachten werden, oder wie sie sich vor den Launen der Natur schützen können.

 

 

Karims siebenköpfige Gruppe wanderte im September 2015 von Tirol nach Bayern – über 200 Kilometer in drei Wochen. Dabei wurde die Gruppe mehrmals von der Polizei aufgehalten, da man sie für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge hielt. Die jungen Berliner schafften es mithilfe einer enormen Charmeoffensive, so gut wie kein Geld für Übernachtungen auszugeben, obwohl ihr Zelt kaputt gegangen war. Es gelang ihnen tatsächlich, mehrmals gratis in Hotels, mitunter der gehobenen Kategorie, zu übernachten.

 

 

Und natürlich trug der Begleiter von Karims Gruppe keine dauerhaften Schäden davon, er war eben drei Wochen mit sieben wagemutigen und aufgeweckten Jugendlichen unterwegs.

 

Was ist der Sinn von Schule im 21. Jahrhundert?

 

Dieser Frage hat sich Magret Rasfeld zugewandt und mit uns diskutiert, welche Paradigmen der Schulstruktur zugrunde liegen. Unsere Gesellschaft steht vor enormen ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Ohne die aktive Teilnahme von vielen wird es schwierig, sinnvolle Antworten auf die offenen Fragen unserer Zeit zu finden.

 

Die Schule der Vergangenheit war stark geprägt von einem dominanten Menschenbild. Man ging davon aus, dass Heranwachsende eher unmündig wären, man sie einstufen und beurteilen müsse. Man setzte voraus, dass Jugendliche geführt werden und von ihren Defiziten befreit werden mussten. Im Vordergrund stand also das Steuern, Kontrollieren, Standardisieren, die Erhöhung der Effizienz.

 

Augenhöhe macht Schule.

 

Doch die Herausforderungen der Zukunft werden Kompetenzen erfordern, die ein hohes Maß an Eigeninitiative beinhalten. Wir werden BürgerInnen brauchen, die in der Lage sind mit Komplikationen kompetent umzugehen. Man wird sich sozialen und ökologischen Problemlagen stellen müssen. Innovation und Engagement wollen aber auch geübt sein. Das ist die mit Leben erfüllte Philosophie der ESBZ. Es werden nicht Arbeitsaufträge gestellt, sondern es wird bewusst Verantwortung und Entscheidungsbefugnis delegiert. Auf diese Weise soll die Bereitschaft zu einer engagierten und innovativen Partizipation stimuliert werden. Selbstwirksamkeit ist das Ziel.

 

„Richtig schön ist sie aber nicht, diese Schule!“

 

Wir wären keine kritischen LehrerInnen, hätten wir nicht sofort Ideen gehabt, wie man dieses oder jenes vermeintlich besser machen könnte. Gleich beim Hineingehen fiel uns die Schlichtheit der Einrichtung auf den Gängen und in den Klassen auf. In dem einen oder anderen Lernbüro hatten wir das Gefühl, dass wir die Kinder besser oder rascher zur Arbeit anregen hätten können. Auch bei manchen Bausteinen, den Lernmaterialien, wären uns bisweilen bessere Aufgabenstellungen eingefallen. Oberflächlich betrachtet schien das alles nichts Besonderes zu sein. Eine Planarbeit zu beobachten war für uns nichts Ungewöhnliches – eine sehr alltägliche Szene mit einigen Kindern, die unkonzentriert sind und anderen, die angestrengt arbeiten.

 

Heterogenität in Lerngruppen – das geht halt nicht!?

 

Am Ende haben wir BesucherInnen es ähnlich empfunden. Einzeln betrachtet sind manche der Ideen nicht spektakulär – se gibt sie in vielen Schulen. Dass diese Ideen hier zu einer Gesamtstruktur zusammengefügt worden sind, ist durchaus bemerkenswert. Die Grundstimmung ist vom Konsens einer tiefgreifenden Eigenverantwortlichkeit geprägt und bis in die Pausengespräche hinein fühlbar.

 

Der ganze Schulalltag ist davon geprägt, dass man den Lernenden und den Lehrenden sehr viel zutraut, dass die handelnden Personen Verantwortung tragen.

 

In nur zwei Schultagen haben wir erlebt, wie diese Gemeinschaftsschule daran arbeitet, mit Heterogenität im Schulalltag umzugehen. Es werden Konzepte entwickelt, anstatt zu sagen, dass manches leider am Standort nicht ginge. Entwickeln heißt aber auch, dass man permanent work-in-progress betreibt.

 

Dass vor uns BesucherInnen aus Oberösterreich nichts beschönigt wurde, haben wir als sehr positiven Umstand empfunden. Wir wissen, dass nicht in jeder Stunde alle SchülerInnen voll bei der Sache sind. Das ist auch in dieser Berliner Reformschule normal – alles andere wäre uns unecht vorgekommen.

 

Wir bedanken uns bei den SchülerInnen, LehrerInnen und Margret Rasfeld für den freundlichen Empfang in der ESBZ.

 

Weiter Informationen zur Schule hier: www.ev-schule-zentrum.de