Das Gutbuch des Kindes

Ein Text von Andi Chvatal
Das Gutbuch des Kindes ist noch leer, denn es beginnt erst und zwar heute. Also gerade rechtzeitig, denn es ist hoch an der Zeit endlich über Gutes zu schreiben, über Kinder eben, die bekanntlich immer gut sind, egal wie garstig schlimm sie auch sein mögen.
So ist es an mir, mit dem Gutbuch des Kindes zu beginnen. Schließlich weiß noch niemand was davon, und es würde sonst nie losgehen, was es aber muss, weil...  wo war ich?
Ach, ja, ich fang jetzt an. Mit dem Gutbuch des Kindes. Und zwar fang ich an mit einem schlimmen Kind, einem sehr, sehr schlimmen Kind. Einem Kind, das so schlimm war, dass sogar ich mir dachte: "Na, die ist aber wirklich schlimm!"
Ja, "die", denn das schlimme Kind war ein Mädchen. Ein Mädchen, dessen Namen ich ändern muss, weil sonst könnte herausgefunden werden,  wer sie war, und das geht gar nicht, dass wer herausfindet, wer wer war und vielleicht auch noch ist, was vermutlich bei dem schlimmen, schlimmen Mädchen, von dem ich jetzt schreiben werde, der Fall ist. Ich hoffe, sie ist genauso geblieben, wie sie war.
Ich gebe ihr das Pseudonym Lagartha, Frau von Ragnar, dem Vikinger, Mutter, Königin und Schildmaid, außerdem sehr brav. 
Ganz anders als meine Lagartha, die, wie ich schon andeutete, sehr schlimm war. Um dem/der Leser:in eine Vorstellung von der Schlimmheit meiner Lagartha zu vermitteln, kann ich nicht umhin, zu berichten, dass ihre Schlimmheit so weit ging, dass sie ungeniert,  ja sogar 
provokant, in meinem Englischunterricht, in meinem  herrlichen, gut vorbereiteten, meinem supertollen Englischunterricht  Karten spielte. Karten! Hinten in der letzten Reihe. Mit einem Mitschüler. Und gewonnen hat sie auch noch.
Aber damit nicht genug. Lagartha war über alle Maßen frech, sie störte den Unterricht und gackerte hämisch, wenn ihr dies wieder einmal gelungen war, zum Gaudium ihrer Klasse, die sich redlich mühte, ihr an Schlimmheit, das Wasser zu reichen, jedoch nur um kläglich zu scheitern.
Lagartha war ein Kopftuchmädchen. Das wäre völlig egal, wie überhaupt egal ist, wer ein Kopftuch aufhat und wer nicht. Entscheidend war jedoch, dass Lagartha eines Tages ihr Kopftuch auf eine Art und Weise trug, die einem Ablegen gleichkam. Elegant und keck
um ihr Haupt gewunden, betonte es ihre hübschen Züge und verlieh ihr eine mystische Aura, was dazu führte, dass ich sie nicht erkannte.
"Haben wir eine neue Schülerin?" fragte ich und ging im brüllenden Gelächter der Klasse unter, um nie wieder hochzukommen.
Ich hatte die Klasse während des Schuljahres übernommen. Die drei Überstunden absorbierten einige Monate lang meine gesamte Einsatzkraft und ich musste sie meiner Gesundheit zuliebe zurücklegen.
Wenig später warteten Lagratha, ihr Zockkumpel und ein paar andere Persönlichkeiten auf dem Gang vor dem Lehrer:innenzimmer auf mich.
"Was gibts?" fragte ich.
"Sind sie nicht mehr bei uns, weil wir so arg sind?" fragte Lagartha.
"Nein, nein!", beschwichtigte ich, tischte ihnen eine wasserdichte Ausrede auf, und sie zogen sichtlich erleichtert von dannen.
Es war eine vierte Klasse. In ein paar Wochen würden sie uns verlassen. Sie füllten die Zeit mit manch lustiger Idee, immer in beträchtlicher Lautstärke. Auch wenn niemand Lagarthas Stimmgewalt erreichte, hatten sich doch viele in ihrem Sog prächtig entwickelt. Sie stritten oder scherzten  -  wobei eines ins andere floss - sowohl in bemerkenswerter Dezibelhöhe, als auch mit verbalem Topspinn.
Besonders beliebt war das Zelebrieren interethnischer Stänkereien. Jede Gruppe wusste gekonnt und wohldosiert zu eskalieren, um sich am puren Provozieren zu ergötzen, bis Lagartha sagte: "Ich sehe hier keine Albaner, keine Serben, keine Türken.
Ich sehen nur Menschen."
Niemand widersprach. Man widersprach Lagartha nicht. Nicht, wenn sie es hörte.
Dies ist mein Beitrag zum Gutbuch des Kindes. Ich rufe, auf weitere zu verfassen und im Gutbuch zu verewigen. Die Beiträge existieren bereits, sie müssen nur noch geschrieben werden.
Um es noch leichter zu machen: Man darf auch über brave Kinder schreiben, und es darf auch ganz kurz sein, oder viel länger, oder...
Ach, ja! Ich bin der Andi Chvatal, und war 39 Jahre lang Lehrer an Wiener Haupt- und später Mittelschulen. In Personalvertretung und Gewerkschaft war ich für die ÖLI-UG und in Wien für die apfl-ÖLI-UG tätig.