Der folgende Text ist eine Vorveröffentlichung eines Interviews, welche die Solidarwerkstatt Linz mit RENATE BRUNNBAUER, der Vorsitzenden von kuli-UG geführt hat.
Dabei nimmt Renate Stellung zu aktuellen Bildungsfragen. Es geht dabei beispielsweise um die Gemeinsame Schule und die Verhinderer dieser längst notwendigen Schul(re)form.
Das Interview wird in Kürze in gedruckter Form erscheinen.
Warum engagierst Du Dich so vehement für eine gemeinsame Schule aller
PflichtschülerInnen? Was sind Deine persönlichen Erfahrungen als
Lehrerin mit der frühen Selektion der Kinder.
In erster Linie aus Solidarität. In der Klasse habe ich das Bedürfnis, jene Kinder zu unterstützen, denen zu Hause nicht beim Lernen geholfen werden kann. Als HS und jetzt NMS-Lehrerin habe ich häufig erlebt, dass Kinder im Laufe der Unterstufenzeit einen Level der Selbstorganisation erreichen, der ihnen dann die Bewältigung einer weiterführenden Schule möglich macht. Bei einer ganztägigen Betreuung wäre der Anteil derer, die sich so positiv entwickeln noch höher. Das klappt an Standorten, wo die Eingangsklientel sehr breit gefächert ist, also auch leistungsstarke SchülerInnen vertreten sind. In ruralen Gebieten ist das häufig der Fall. Meine Solidarität gilt den Kindern und KollegInnen im städtischen Gebiet. Dort sind die NMS gegenüber der AHS im Nachteil wenn sie leistungsstarke und sozial stabile Kinder aus bildungsnahen Familien gewinnen wollen. Sie haben gegen die AHS-Unterstufe keine Chance und werden – besonders in Städten - schnell zu Schulen zweiter Wahl. Die guten Erfolge gelingen aber in heterogenen Klassen.
Wie bewertest Du die Erfahrung mit der "Neuen Mittelschule" - ein
Schritt in die richtige Richtung oder Etikettenschwindel?
Es ist ein typischer Minimalkonsens, der die Verhinderung einer echten gemeinsamen Schule zum Ziel oder zumindest zur Folge hat. Die Bezeichnung Etikettenschwindel trifft es recht gut - und das in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wurde sie LehrerInnen - etwa von Brennpunktschulen - als Ausweg gegen ungünstige Schülerströme verkauft. Manche Hauptschulstandorte haben sich frühzeitig darum beworben, weil sie sich erhofft hatten, nun auch Kinder anlocken zu können, die sich zuvor von ihrem ‚Restschulenimage’ abschrecken hatten lassen. Durch die Namensgebung sollten Eltern den Eindruck kriegen, die NMS wäre so eine Art Gymnasium. Und mit der flächendeckenden Umbenennung der HS in NMS wurde sie schließlich auch noch als Gesamtschule bezeichnet. Das alles ist die NMS nicht und entsprechend wenig Glauben haben diese Behauptungen auch gefunden.
Es ist ja schön, dass durch das Unterrichten in heterogenen Klassen viele moderne Unterrichtsformen ins Gespräch kommen. Methoden, die der Tatsache Rechnung tragen, dass Lernen etwas sehr Individuelles ist und die Zusammensetzung jeder Klasse heterogen ist, werden in den Teams an den Schulen diskutiert. Schade nur, dass das keine reale Heterogenität ist, denn die Schüler und SchülerInnen, die weiterhin ins Gymnasium geschickt werden, fehlen ja.
Schön, dass man sich rund um die NMS-Einführung bewusst macht, dass erfolgreiches Lernen nur auf der Basis einer tragfähigen Beziehungsebene funktioniert. Lernen braucht Beziehung, als Boden für ermutigende Rückmeldungen. Schade nur, dass in den meisten NMS die innerschulischen Strukturen mit 50-Minuten-Einheiten und einer Lehrfächerverteilung mit oft über 100 Schülern und Schülerinnen pro Lehrperson beibehalten wird. Eine Kollegin hat mir gesagt, sie fühlt sich wie ein Schnellzug im Schulgebäude. Beziehungen zu den Schülern kann man wohl trotzdem irgendwie aufbauen – es kostet halt uns PädagogInnen viel mehr Kraft und Energie.
Schön, dass so aktiv Schulentwicklung betrieben wird. Schade nur, dass die restriktiven Anordnungen dafür häufig die Innovation im Kollegium ersticken. Schade, wenn Evaluierung dadurch oft zu einer Formalsache verkommt.
Die Einführung der NMS wurde quasi über Nacht verwirklicht. Ohne das Konzept in Schulversuchen wirklich erprobt zu haben, wird es umgesetzt begleitet von einem top-down organisierten System von Fortbildungen. Die LehrerInnen der NMS werden von immer weiter reichenden zusätzlichen Aufgaben regelrecht überflutet. Das erzeugt Frustration.
Eine gemeinsame Schule muss auch wirklich gemeinsam sein. Nur so kann man die ungünstigen Schülerströme, die manchen Standorten so zu schaffen machen, auch beeinflussen. Das ist wahrscheinlich das realpolitische Problem der Gemeinsamen Schule: Kompromisse sind nicht möglich. Entweder ist die Sekundarstufe I gemeinsam oder nicht. Kompromissformen gehen ebenso wenig wie ein bisschen schwanger zu sein.
Du bist auch als Personalvertreterin in der Gewerkschaft aktiv. Wie
schaut die Auseinandersetzung in der Gewerkschaft in Bezug auf die
Gemeinsame Schule aus?
Die GÖD ist mehrheitlich „schwarz“ – muss ich noch mehr dazu sagen?
Es gibt eine starke Mehrheit in der LehrerInnengewerkschaft, die gegen eine Gemeinsame Schule ist. Würden nicht die Unabhängigen GewerkschafterInnen die Gemeinsame Schule immer wieder
thematisieren, wäre die Diskussion darüber wahrscheinlich völlig verstummt. Wir tun uns natürlich leichter als FCG oder FSG, denn wir sind uns österreichweit und vor allem schulstufenübergreifend
einig.
Welche weiteren Veränderungen brauchen wir aus Deiner Sicht im Schul-
und Bildungssystem in Österreich?
Wir brauchen eine gemeinsame Schule mit ganztägiger Betreuung. Die Leistungsbeurteilung wird dabei eine große Herausforderung sein. Wir werden uns überlegen müssen, ab welchem Alter es überhaupt
eine Ziffernbeurteilung braucht, wenn man zwischendurch ohnehin keine Berechtigungen vergeben muss.
Für alle Beteiligten, ich meine Kinder Eltern und LehrerInnen ist ein Paradigmenwechsel höchst dringend. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir mit der herkömmlichen Herangehensweise die
aktuellen Herausforderungen nicht bewältigen. Derzeit bleibt ein erheblicher Prozentsatz von Fähigkeiten auf der Strecke. Grund dafür ist zu einem großen Anteil die frühe Auslese. Das Auswählen
von 9 ½ -jährigen Kindern für gymnasiale Schulkarrieren beruht ja nicht auf verlässlichen Prognosen über die zukünftige Leistungsfähigkeit der Kinder, das ist ja gar nicht möglich. Die moderne
Entwicklungs- und Schulpsychologie geht davon aus, dass sich für die meisten Kinder im Alter von 9 ½ Jahren überhaupt keine verlässlichen Schulerfolgsprognosen treffen lassen. Begabungen und
Neigungen konsolidieren sich weitestgehend nach (den Turbulenzen) der Pubertät. Kinder vorher schon auszuschließen ist eine Verschwendung von Talenten. Und das sollten wir uns nicht
leisten.
Wenn wir aber in heterogenen Lerngruppen unterrichten und Lernschwache, Kinder mit Beeinträchtigungen und Kinder mit Fluchtbiografien einbinden wollen, dann müssen wir umdenken. Nicht nur die
Methodik muss verändert werden, sondern auch die grundlegende Haltung einer bunten schulischen Gesellschaft gegenüber. Es gibt immer wieder Ängste dass die Inklusion von Kindern mit Handicaps
oder SchülerInnen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch erfolgreiches Lernen stören. Mit den Unterschiedlichkeiten lässt sich ohne jeden Verlust beim Lernerfolg umgehen. Wir sollten uns
aber verdeutlichen, dass Maßnahmen wie Deutschpflicht in Schulpausen viele unfreundliche Zusatzbotschaften implizieren. Eine Gemeinsame Schule muss sich auch im Denken auf eine Schule als
Gemeinschaft abzielen.
Wie können wir zu einer breiten und vielfältigen Bildungsbewegung
kommen, um den Stillstand/Rückwärtsgang in der Bildungspolitik zu
durchbrechen?
Was wir brauchen ist ein gesellschaftlicher Konsens. Konservative Beharrungspolitik ist sehr hinderlich. Veränderungswille ist schwer zu erreichen, aber nicht unmöglich. In den letzten Jahren ist
eine regere Beteiligung an Bildungsdiskussionen zu verzeichnen als früher. Wir leben in einer sehr spannenden Zeit.
Gesellschaftliche Veränderungen zwingen uns vieles zu überdenken. Während ein sogenannter Integrationsminister verpflichtende Werte-Schulungen für Zugewanderte fordert, fragen sich manche
BürgerInnen, welche Werte, denn wirklich von der Mehrheit der ÖsterreicherInnen getragen werden. Es ist zu befürchten, dass auf dem Weg zu einer bunter gemischten Bevölkerung in Österreich
manches verschlafen wird. Einen wichtigen Anteil auf einem Weg zu einer gemischten, niemanden ausschließenden Gesellschaft wird das Bildungssystem leisten müssen. Wir müssen daher die Debatte
über Bildung vehement weiterführen.
In regelmäßigen Abständen wird ja gefordert, dass die Schule gesellschaftliche Probleme lösen soll. Nur: das Bildungssystem ist keine Feuerwehr, die ungünstige Haltungen in einer Art
‚Löschaktion‘ richten kann. Bleibt man in diesem Vergleich könnte man den Schulen eher die Möglichkeit eines langfristig angelegten Brandschutzes zusprechen. Es ist notwendig, dass fällige
Reformen mit viel Entschossenheit und Idealismus auf allen Ebenen eingefordert werden. Denn wir wollen keine Kinder zurücklassen, keine Entfremdungserfahrungen verursachen, wir brauchen eine
gemeinsame Schule für alle Kinder.
Renate Brunnbauer
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