Schreibschrift nicht mehr unterrichten ?

Die geplante Abschaffung der Schreibschrift in Finnland hat die Diskussion darüber auch in Österreich entfacht. Welche Bedeutung die Handschrift für die Gehirnentwicklung hat, ist unklar
Wenn sich Pisa-Musterland Finnland bewegt, entfacht das Schuldiskussionen in ganz Europa. Diesmal geht es um eine der ältesten Kulturtechniken des Menschen: das Schreiben mit der Hand. Finnland will die Schreibschrift 2016 aus den Curricula streichen, und überhaupt soll der Computer immer öfter statt der Handschrift bei Schularbeiten verwendet werden, berichtet Tanja Traxler im Standard vom 28. Jänner. Die Idee ist nicht neu: Unter Vorreiterschaft der USA wird die Schreibschrift seit rund zehn Jahren zunehmend aus den Schulen verdrängt. Die Common Core Standards, nach denen sich die meisten US-Bundesstaaten richten, sehen vor, dass Schreiben vor allem im Kindergarten und in der ersten Klasse unterrichtet wird - dann rückt das Tastaturschreiben schnell in den Vordergrund.
In der Schweiz und in Deutschland steht es LehrerInnen frei, Kindern die zusammenhängende Handschrift beizubringen oder nicht. Der finnische Vorstoß hat nun auch die Diskussion darüber in Österreich neu entfacht. Bisher lernen die SchülerInnen in Österreich drei verschiedene Formen der Handschrift: Blockbuchstaben, Druckschrift und die zusammenhängende Schreibschrift.

Zwar gibt es einige wissenschaftliche Arbeiten dazu, wie die Abschaffung der Schreibschrift sich möglicherweise auf Lese- und Lernkompetenz und die Gehirnentwicklung auswirken könnte. Doch unter den WissenschafterInnen herrscht darüber Uneinigkeit.

Relativ unumstritten ist die Tatsache, dass die motorische Tätigkeit des Schreibens das Erlernen der Schrift fördert und die Gehirnentwicklung begünstigt. "Wir lernen Inhalte besser, wenn wir sie motorisch integrieren", sagt Veronika Schöpf, Professorin für Neuroimaging am Institut für Psychologie, Sektion Neuropsychologie/Neuroimaging der Uni Graz.

Wo sich die Geister scheiden, ist jene Frage, ob das Tastaturschreiben dafür ausreicht oder das Handschreiben vorzuziehen ist. Schöpf geht davon aus, dass das Tastaturschreiben für die Gehirnentwicklung ebenso förderlich ist wie das Schreiben auf Papier. Die Abschaffung der Schreibschrift würde sie zwar als "kulturellen Verlust" empfinden - allerdings ohne negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung.

Andere WissenschafterInnen vertreten hingegen die These, dass das Schreiben besser erlernt wird, wenn auch die Feinmotorik gefordert ist - das handschriftliche Schreiben sei daher immer noch am besten. Eine der bekanntesten Studien dazu stammt von Karin James, Psychologieprofessorin an der Indiana University. 2012 führte sie ein Experiment mit Kindern durch, die noch nicht lesen und schreiben gelernt hatten. Den Kindern wurden Buchstaben gezeigt, die sie auf drei verschiedene Weisen reproduzieren sollten: Eine Gruppe sollte das Bild auf einer gepunkteten Umrisslinie nachzeichnen, die zweite auf ein weißes Blatt Papier malen, die dritte per Computertastatur eingeben.

Als James Gehirnscans der Testpersonen anfertigte, zeigte sich, dass bei den Kindern der zweiten Gruppe, die die Buchstaben frei Hand nachzeichneten, wesentlich mehr Aktivität in einer Gehirnregion zu sehen war, die auch bei Erwachsenen beim Schreiben und Lesen aktiv ist.
Die Studie wird daher gern als Indiz dafür gelesen, dass die Handschrift dem Tastaturschreiben vorzuziehen ist, negative Auswirkungen durch eine Abschaffung der Schreibschrift sind daraus aber nicht abzulesen.

Nur wenige WissenschafterInnen gehen sogar so weit zu sagen, dass die zusammenhängende Schrift einen Sonderstatus einnehme und ihre Abschaffung sich nachteilig auf die Gehirnentwicklung auswirke. Der prominenteste Vertreter dieser These ist wohl der kanadische Psychiater und Experte für Neuroplastizität, Norman Doidge.

Spricht man europäische SchreibforscherInnen auf die These des internationalen Bestsellerautors an, wird sie nicht selten als "esoterisch" abgetan. Stoff für Diskussion bietet sie allemal: Doidge argumentiert, dass die Schreibschrift anders als die Druckschrift die Buchstaben in einmaliger Weise verbindet, wodurch die Teile im Gehirn mehr gefordert sind, die symbolische Sequenzen in motorische Bewegungen übersetzen. Das Fazit daraus: Die Schreibschrift muss bleiben.
Doidge stützt sich in seiner Argumentation auf den kanadischen Neuromediziner Jason Barton von der University of British Columbia. Er analysierte in medizinischen Studien, wie und in welchen Gehirnregionen Text verarbeitet wird. Zwar ist das Lesen eines Textes hauptsächlich eine Aktivität, die der linken Gehirnhälfte zukommt. Allerdings ist es möglich, Text jenseits der Identifikation von Worten und Buchstaben zu verarbeiten. Dabei spielen Schriftart und Handschrift eine Rolle - und hierbei kommt nach Barton die rechte Gehirnhälfte ins Spiel.

So legen die Studien zwar nahe, dass die Schreibschrift Auswirkungen auf die Lesekompetenz haben könnte - wie sich die Abschaffung im Detail auf die Gehirnentwicklung auswirken könnte, bleibt aber unklar.

Auch ein Forschungsprojekt in Österreich hat die Bedeutung der Handschrift zum Thema: Um Wahrnehmung und Gebrauch von Schrift und Geschriebenem von Volksschulkindern geht es in dem Projekt "My Literacies", das vom Wissenschaftsministerium im Rahmen des Schulprogramms Sparkling Science finanziert und von der Sprachwissenschafterin Nadja Kerschhofer-Puhalo geleitet wird. Aus anderen Projekten weiß man, dass Kinder in den ersten Schuljahren das Lernen der Schreibschrift, als "sehr mühsam" empfinden. Ist es also gut, die Schreibschrift abzuschaffen? Die an der Uni Wien tätige Wissenschafterin verneint. "Schreiben am Computer ist für Kinder sehr attraktiv. Dennoch ist das Schreiben mit der Hand - egal ob in Druckschrift oder einer Verbundschrift - förderlich für die Entwicklung von Lese- und Schreibfertigkeiten." Allerdings zeigen die ihr bekannten Studien hier keinen Unterschied zwischen dem Schreiben in Druckschrift oder einer Schreibschrift.

So umstritten die Abschaffung der Schreibschrift für die Gehirnentwicklung und Lesekompetenz aus wissenschaftlicher Sicht sind, so klar scheinen ihre wirtschaftlichen Auswirkungen. Jede Schulreform bringt ökonomische Vorteile für die einen und Nachteile für die anderen. So soll sich bei einer Schreibschriftreform in den 1970er-Jahren in Deutschland der Schreibwarenhersteller Pelikan damit gebrüstet haben, die neue Schrift mitentwickelt zu haben.

Wenn nun die Handschrift zugunsten des Tastaturschreibens vermehrt in den Schulen zurückgedrängt wird, dürfen sich die IT-Unternehmen freilich freuen, und es darf kaum überraschen, dass aktuell der Schreibwarenhersteller Stabilo in einer Presseaussendung vom 14. Jänner vor der Zurückdrängung der Handschrift warnt: Unter Berufung auf das deutsche Schreibmotorik-Institut und auf eine Studie der Princeton University wird auf die "entscheidende Rolle" der Handschrift für das Lernen hingewiesen.

Daniel Spielmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schreibzentrum der Goethe-Uni in Frankfurt am Main, plädiert dafür, die Medialität des Schreibens nicht überzubewerten. "Wichtig ist, dass die Leute überhaupt schreiben." Notizen machen - egal ob am Computer oder auf Papier - und sich Zeit nehmen, über das geschriebene Wort zu reflektieren. "Das ist für das Lernen enorm wichtig." Und dabei, sich und die Welt zu entdecken.


Wilfried Mayr


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